Bei der ersten Generalaudienz am 25. Oktober IN WAHRER KLUGHEIT HANDELN! Als Papst Johannes Paul I. am Mittwoch, dem 27. September, zu den Teilnehmern der Generalaudienz sprach, hätte niemand erwartet, daß dies seine letzte Audienz sein würde. Sein Tod - nach einem Pontifikat von dreiunddreißig Tagen - kam für die ganze Welt überraschend und hat tiefe Trauer ausgelöst. Er, der so große Freude in der Kirche und so viel Hoffnung in den Herzen der Menschen geweckt hatte, hat seine Sendung für eine so kurze Zeit wahrgenommen und zum Ende geführt. Mit seinem Tod hat sich das im Evangelium mehrfach wiederholte Wort bewahrheitet: ,, ... haltet euch bereit! Denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, in der ihr es nicht erwartet" (Mt 24, 44). Johannes Paul I. war stets bereit. Der Ruf des Herrn hat ihn nicht überrascht. Er folgte ihm mit derselben bangen Freude, mit der er am 26. August seine Wahl auf den Stuhl des hl. Petrus angenommen hatte. Heute stellt sich euch zum ersten Mal Johannes Paul II. vor. Vier Wochen nach jener Generalaudienz möchte er euch begrüßen und zu euch sprechen. Er möchte die von Johannes Paul I. bereits begonnenen Themen weiterführen. Wir erinnern uns daran, daß er von den drei theologischen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe gesprochen hat. Zuletzt sprach er über die Liebe. Sie ist - wie er in seiner letzten Ansprache an die Gläubigen ausführte - hier auf Erden die größte Tugend; das lehrt auch der hl. Paulus (vgl. 1 Kor 13, 13). Sie überschreitet die Schwelle des Lebens und des Todes. Denn wenn die Zeit des Glaubens und der Hoffnung endet, dauert die Liebe fort. Johannes Paul I. ist schon durch die Zeit von Glaube, Hoffnung und Liebe hindurchgeschritten, die sich auf dieser Erde schon in so großartiger Weise ausgedrückt hat, deren ganze Fülle sich aber erst in der Ewigkeit offenbaren wird. Heute müssen wir über eine andere Tugend sprechen; denn ich habe den Notizen des verstorbenen Papstes entnommen, daß er die Absicht hatte, nicht nur über die drei theologischen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe zu sprechen, sondern auch über die vier sogenannten Kardinaltugenden. Johannes Paul I. wollte von den „sieben Leuchten" des christlichen Lebens sprechen, wie Papst Johannes XXIII. sie nannte. So will ich dies heute, wie es der verstorbene Papst vorhatte, fortsetzen, indem ich kurz von der Tugend der Klugheit zu euch spreche. Von dieser Tugend haben schon die Menschen der Antike viel gesprochen. Wir schulden ihnen dafür tiefe Anerkennung und Dankbarkeit. In gewisser Weise haben sie uns gelehrt, daß der Wert des Menschen nach dem sittlich Guten bemessen werden muß, das er in seinem Leben verwirklicht. Eben dies gewährleistet vor allem die Tugend der Klugheit. Der kluge Mensch, der nach allem wahrhaft Guten strebt, gibt sich Mühe, jede Sache, jede Situation und sein ganzes Handeln nach dem Maßstab des sittlich Guten zu bemessen. Klug ist also nicht - wie es so oft verstanden wird - derjenige, der weiß, wie man im Leben durchkommt und für sich daraus den größten Nutzen zieht; klug ist vielmehr derjenige, der sein ganzes Leben nach der Stimme des rechten Gewissens und den Forderungen der richtigen Moral gestaltet. Also ist die Klugheit der Schlüssel, den jeder von uns von Gott erhalten hat. Dieser Auftrag aber ist die Vervollkommnung des Menschen selbst. Gott hat jedem von uns sein Menschsein geschenkt. Wir müssen auf diesen Auftrag antworten, indem wir ihn folgerichtig durchführen. Doch der Christ hat das Recht und die Pflicht, die Tugend der Klugheit auch aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Sie ist Bild und Gleichnis der Vorsehung Gottes in der Dimension des Einzelmenschen. Denn der Mensch wurde, wie wir aus dem Buch Genesis wissen, nach dem Bild und als Ebenbild Gottes geschaffen. Und in der Geschichte der Schöpfung und vor allem in der Geschichte der Menschheit verwirklicht Gott seinen Plan. Das Endziel dieses Planes ist, wie der hl. Thomas lehrt, die letzte Vollendung des Universums. Dieser Plan wird in der Geschichte der Menschheit schlicht zum Heilsplan, der uns alle einschließt. Im Mittelpunkt seiner Verwirklichung steht Jesus Christus, in dem die ewige Liebe und die Sorge Gottes, unseres Vaters, für das Heil des Menschen ihren Ausdruck gefunden hat. Dieses Heil ist zugleich vollkommener Ausdruck der göttlichen Vorsehung. Der Mensch als Ebenbild Gottes soll also - das lehrt wiederum der hl. Thomas - in gewisser Weise Vorsehung sein. Aber nach dem Maß seines Lebens. Mit allen Geschöpfen ist er unterwegs zum Ziel, nämlich zur Vollendung der Schöpfung. Er soll - um es noch nachdrücklicher in der Sprache des Glaubens zu sagen - am göttlichen Heilsplan teilnehmen. Er muß auf das Heil zugehen und den anderen dazu verhelfen, daß auch sie das Heil erfahren. Indem er den anderen dazu verhilft, wird er selbst gerettet. Ich bitte jeden, der mir zuhört, in diesem Licht über sein eigenes Leben nachzudenken. Bin ich klug? Lebe ich konsequent und verantwortungsvoll? Dient das von mir verwirklichte Lebensprogramm wirklich dem Guten? Dient es dem Heil, das Christus und die Kirche für uns wünschen? Wenn mich heute ein Schüler oder eine Schülerin, ein Sohn oder eine Tochter hört, mögen sie in diesem Licht ihre Schulaufgaben, Lektüre, Interessen und Freizeitgestaltung, den Kreis ihrer Freunde und Freundinnen prüfen. Wenn mich ein Familienvater oder eine Mutter hört, mögen sie ein wenig an ihre ehelichen und elterlichen Pflichten denken. Wenn mich ein Minister oder ein Staatsmann hört, möge er den ganzen Umkreis seiner Verpflichtungen und verantwortungsvollen Aufgaben ins Auge fassen. Sucht er das wahre Wohl der Gesellschaft, der Nation, der Menschheit? Oder geht es ihm nur um Sonder- und Teilinteressen? Wenn mir ein Journalist, ein Publizist, ein Mann, der Einfluß auf die öffentliche Meinung ausübt, zuhört, möge er über den Wert und das Ziel seines Einflusses nachdenken. Auch ich, der ich hier zu euch spreche, der Papst - was muß ich tun, um klug zu handeln? Mir kommen da die Briefe Albino Lucianis - damals noch Patriarch von Venedig - an den hl. Bernhard in den Sinn. In seiner Antwort an Kardinal Luciani erinnert der Abt von Clairvaux und große Kirchenlehrer nachdrücklich daran, daß der, der regiert, ,,klug" sein müsse. Was soll nun der neue Papst tun, um klug zu handeln? Sicher muß auch er sich sehr um Klugheit bemühen. Er muß unablässig lernen und immer wieder über dieses Problem nachdenken. Was aber kann er darüber hinaus tun? Er muß beten und sich um die Erlangung jener Gabe des Heiligen Geistes bemühen, die wir als „Gabe des Rates" bezeichnen. Alle, deren Wunsch es ist, daß der neue Papst ein kluger Hirte der Kirche sei, sollen für ihn um die Gabe des Rate beten. Für sich selbst mögen sie diese Gabe durch die besondere Fürsprache der Mutter des Guten Rates erbitten. Denn es muß unser inniger Wunsch sein, daß sich alle Menschen klug verhalten und jene, die die Macht innehaben, in wahrer Klugheit handeln. Möge die Kirche - gestärkt mit den Gaben des Heiligen Geistes, besonders mit der Gabe des Rates - klug und wirkungsvoll an dieser großen Wanderung zur Vollendung aller teilnehmen und allen den Weg des ewigen Heils zeigen!