Bei der Generalaudienz am 15. November WELCHER MENSCH GILT ALS TAPFER? Als Papst Johannes Paul I. am Tag nach seiner Wahl von der Mittelloggia der Peterskirche aus sein Grußwort an die Menge richtete, erwähnte er unter anderem, während des Konklaves vom 26. August, als bereits alles auf seine Wahl hindeutete, hätten ihm die Kardinäle neben ihm ins Ohr geflüstert: ,,Mut!" Wahrscheinlich hatte er in jenem Augenblick diesen Zuspruch nötig, der sich ihm stark eingeprägt hatte, da er sich am nächsten Tag sogleich daran erinnerte. Johannes Paul I. wird es mir verzeihen, wenn ich nun diese seine vertrauliche Mitteilung verwende. Ich glaube nämlich, daß gerade sie uns alle, die wir hier versammelt sind, am besten in das Thema einführt, das ich nun entfalten möchte. Meine Absicht ist nämlich, heute über die dritte Kardinaltugend, die Tapferkeit, zu sprechen. Diese Tugend meinen wir, wenn wir jemandem Mut zusprechen, so wie es der Nachbar von Johannes Paul I. beim Konklave tat, als er ihm zuflüsterte: ,,Mut!" Welcher Mensch gilt als tapfer und mutig? Gewöhnlich denken wir hier an den Soldaten, der sein Vaterland verteidigt und im Krieg seine Gesundheit und sogar sein Leben in Gefahr bringt. Wir sind uns aber bewußt, daß wir auch im Frieden Tapferkeit brauchen. Deshalb empfinden wir große Hochachtung gegenüber Menschen, die sich durch sogenannte „Zivilcourage" auszeichnen. Ein Zeuge der Tapferkeit ist jemand, der sein Leben einsetzt, um einen Ertrinkenden zu retten, oder ein Mensch, der bei Naturkatastrophen, wie Brand, Überschwemmung usw. Hilfe leistet. Sicher zeichnete sich mein Namenspatron, der hl. Karl Borromäus, durch diese Tugend aus, als in seinem Bistum Mailand zu seiner Zeit die Pest wütete. Voll Bewunderung denken wir aber auch an jene Männer, die den Gipfel des Everest besteigen, oder an die Raumfahrer, die zum ersten Mal den Mond betraten. Aus all dem ergibt sich, daß die Äußerungen der Tapferkeit vielfältig sein können. Manche von ihnen sind allgemein bekannt und genießen sogar einen gewissen Ruhm. Andere sind weniger bekannt, auch wenn sie oft noch größere Tugend erforschen. Die Tapferkeit ist, wie schon gesagt, eine Tugend, eine Kardinaltugend. Erlaubt mir, daß ich eure Aufmerksamkeit auf Beispiele lenke, die im allgemeinen wenig bekannt sind, aber von großer, ja bisweilen heroischer Tapferkeit zeugen. Ich denke zum Beispiel an eine Frau, Mutter einer bereits kinderreichen Familie, der viele „den Rat geben", ein neues, in ihrem Schoß bereits empfangenes Leben zu beseitigen, indem sie den „Eingriff" der Schwangerschaftsunterbrechung vornehmen läßt. Sie aber antwortet fest und standhaft: ,,Nein!" Natürlich weiß sie um alle Schwierigkeiten, die dieses Nein mit sich bringt, Schwierigkeiten für sie, für ihren Mann, für die ganze Familie, und dennoch antwortet sie: ,,Nein!" Das neue Menschenleben in ihrem Schoß ist ein zu großer, zu heiliger Wert, als daß sie solchem Drängen nachgeben könnte. Noch ein Beispiel: ein Mann, dem die Freiheit und sogar eine mühelose Karriere versprochen wird, freilich unter der Bedingung, daß er seine Grundsätze verleugnet oder etwas billigt, was der Redlichkeit anderen gegenüber widersprechen würde. Doch auch er sagt nein, selbst angesichts von Drohungen einerseits und verlockenden Versprechungen anderseits. Das ist ein mutiger Mann! Viele, sehr viele Fälle von Tapferkeit, oft heroischen Ausmaßes, gibt es; von ihnen steht nichts in den Zeitungen, oder man weiß nur wenig davon. Nur das menschliche Gewissen kennt sie ... und Gott weiß davon! Allen diesen unbekannten Mutigen möchte ich meine Anerkennung aussprechen. Allen jenen, die den Mut haben, nein bzw. ja zu sagen, was es auch kosten möge! Allen Menschen, die ein hervorragendes Zeugnis menschlicher Würde und tiefer Menschlichkeit ablegen. Gerade weil sie unbekannt sind, verdienen sie besondere Anerkennung. Nach der Lehre des hl. Thomas v. Aquin begegnet uns die Tugend der Tapferkeit beim Menschen: - der bereit ist, ,,aggredi pericula", d. h. Gefahren entgegenzutreten; - der bereit ist, ,,sustinere mala", also für eine gerechte Sache, für die Wahrheit, für die Gerechtigkeit usw. Unbill auf sich zu nehmen. Die Tugend der Tapferkeit verlangt immer in gewissem Maße ein Überwinden der menschlichen Schwäche, vor allem der Angst. Spontan fürchtet der Mensch die Gefahr, den Kummer, das Leiden. Daher sind mutige Menschen nicht nur auf den Schlachtfeldern, sondern auch in den Krankensälen oder auf den Schmerzenslagern zu suchen. Oft konnte man ihnen in den Konzentrationslagern und an den Orten der Verbannung begegnen. Das waren wahrhaft heroische Menschen. Die Angst nimmt bisweilen den Menschen, die in einem Klima der Bedrohung, Unterdrückung oder Verfolgung leben, die Zivilcourage. Besondere Bedeutung kommt dann Menschen zu, die diese Angstbarriere zu durchbrechen vermögen, um Zeugnis abzulegen für Wahrheit und Gerechtigkeit. Um solche Tapferkeit zu erreichen, muß der Mensch gewissermaßen seine eigenen Grenzen „überschreiten" und sich selbst überwinden, indem er das Risiko einer unbekannten Zukunft eingeht, Unbeliebtheit auf sich nimmt und sich unangenehmen Folgen, wie Beleidigungen, Erniedrigungen, Besitzverlust, ja vielleicht auch Gefängnis und Verfolgung, aussetzt. Um einen solchen Grad an Tapferkeit zu erlangen, muß sich der Mensch von einer großen Liebe zur Wahrheit und dem Ideal, dem er sich verschrieben hat, leiten lassen. Die Tugend der Tapferkeit wächst in dem Maße, wie die Fähigkeit, Opfer zu bringen, zunimmt. Diese Tugend hatte bereits in der Antike klare Umrisse. Mit Christus bekam sie ein eigentlich christliches Profil. Sein Evangelium richtet sich an die schwachen, armen, sanftmütigen und demütigen Menschen, an die Friedensstifter, an die Barmherzigen, und es enthält zugleich einen ständigen Anruf zur Tapferkeit. Immer wieder heißt es: ,,Fürchtet euch nicht!" (Mt 14, 27). Das Evangelium lehrt den Menschen, daß er imstande sein muß, für eine gerechte Sache, für die Wahrheit und für die Gerechtigkeit ,,das Leben hinzugeben" (Joh 15, 13). Ich möchte hier noch ein weiteres Beispiel anführen, das zwar bereits 400 Jahre zurückliegt, aber noch immer lebendig und aktuell ist. Es handelt sich um den hl. Stanislaus Kostka, den Schutzpatron der Jugend, dessen Grab sich in der Kirche S. Andrea al Quirinale in Rom befindet. Hier beendete dieser Heilige, der - von Natur aus sehr sensibel und zart - doch äußerst tapfer war, mit 18 Jahren sein Leben. Seine Tapferkeit veranlaßte ihn, der aus adeliger Familie stammte, nach dem Vorbild Christi die Armut zu wählen und sich ausschließlich seinem Dienst zu weihen. Obwohl seine Entscheidung auf starken Widerstand in seiner Umgebung stieß, gelang es ihm, mit großer Liebe, aber auch mit großer Standhaftigkeit seinen Vorsatz durchzuführen, der in dem Leitwort enthalten ist: ,,Ad maiora natus sum" (,,Ich bin zu Größerem geboren"). Um seinen Verfolgern zu entkommen, die den „hartnäckigen" Jüngling von seinen Plänen abbringen wollten, brach er von Wien auf und erreichte zu Fuß das Noviziat der Jesuiten in Rom. Ich weiß, daß gerade im November zahlreiche jugendliche aus ganz Rom, besonders Studenten, Schüler und Novizen, das Grab des hl. Stanislaus in der Kirche S. Andrea besuchen. Ich bin im Geiste bei ihnen, denn auch unsere Generation hat Menschen nötig, die mit heiliger „Hartnäckigkeit" zu wiederholen vermögen: ,,Ad maiora natus sum!" Wir brauchen tapfere Menschen! Wir brauchen die Tapferkeit, um wahre Menschen zu sein. Denn wahrhaft klug ist nur, wer die Tugend der Tapferkeit besitzt; ebenso ist nur der wahrhaft gerecht, der die Tugend der Tapferkeit besitzt. Beten wir um diese Gabe des Heiligen Geistes, die sich „die Gabe des Starkmuts" nennt. Wenn dem Menschen die Kraft fehlt, angesichts höherer Werte, wie der Wahrheit, der Gerechtigkeit, der geistlichen Berufung, der ehelichen Treue, sich selbst zu überwinden, muß diese Gabe von oben aus jedem von uns einen tapferen Menschen machen und uns im rechten Augenblick im Innersten sagen: Mut!