Bei der Generalaudienz am 22. November DIE TUGEND DER SELBSTBEHERRSCHUNG Im Laufe der ersten Audienzen meines Pontifikats habe ich versucht, das „Testament" meines geliebten Vorgängers Johannes Paul I. auszuführen. Er hat, wie allgemein bekannt, zwar kein schriftliches Testament hinterlassen, weil ihn der Tod plötzlich und unerwartet ereilte. Doch hat er Notizen hinterlassen, aus welchen hervorgeht, daß er bei den ersten Mittwochsaudienzen über die Grundsätze des christlichen Lebens sprechen wollte, nämlich über die drei göttlichen Tugenden - wozu ihm selbst ja noch die Zeit gegeben war- und dann über die vier Kardinaltugenden - was sein unwürdiger Nachfolger tut. Heute kommt die vierte Kardinaltugend, die Selbstbeherrschung, an die Reihe, womit wir gewissermaßen das Programm Johannes Pauls I. abschließen, das fast einem Testament des verstorbenen Papstes gleichkommt. Wenn wir von den Tugenden - und zwar nicht allein von diesen Kardinaltugenden, sondern von allen einzelnen Tugenden - sprechen, müssen wir immer den wirklichen, den konkreten Menschen vor Augen haben. Die Tugend ist nicht etwas Abstraktes, vom Leben Losgelöstes, sondern ganz im Gegenteil, sie ist tief in diesem Leben verwurzelt, geht aus ihm hervor und gestaltet es. Die Tugend wirkt sich auf das Leben des Menschen aus, auf seine Handlungen und sein Verhalten. Daher kommt es, daß wir bei all diesen Überlegungen nicht so sehr von der Tugend, sondern vielmehr vom Menschen sprechen, vom Menschen, der lebt und tugendhaft handelt; wir sprechen vom klugen, vom gerechten, vom tapferen und schließlich, eben heute, vom beherrschten ( oder „maßhaltenden") Menschen. Wir wollen gleich hinzufügen, daß alle diese Attribute oder besser Verhaltensweisen des Menschen, die von den einzelnen Kardinaltugenden sich ableiten, miteinander in Verbindung stehen. Man kann also kein wirklich kluger, wahrhaft gerechter oder tapferer Mensch sein, wenn man nicht auch die Tugend der Selbstbeherrschung besitzt. Ja, man kann sagen, daß diese Tugend indirekt die Voraussetzung für alle übrigen Tugenden bildet, aber man kann ebenso sagen, daß alle anderen Tugenden unerläßlich sind, soll der Mensch über Selbstbeherrschung verfügen. Die Bezeichnung „Maßhalten" ( d. h. maßvoll sein) selbst scheint sich gewissermaßen auf das zu beziehen, was „außerhalb des Menschen" ist. Denn wir nennen jemanden maßvoll, der nicht zuviel ißt oder trinkt, der in seinen Vergnügungen nicht übertreibt, nicht unmäßig Alkohol zu sich nimmt, sich nicht durch Drogenmißbrauch betäubt, usw. Diese Bezugnahme auf Elemente außerhalb des Menschen ist jedoch im Menschen selbst grundgelegt. Es ist als ob in jedem von uns ein „höheres Ich" und ein „niederes Ich" vorhanden wäre. Unser „niederes Ich" bringt unseren Leib und alles leibliche zum Ausdruck: die Bedürfnisse, Wünsche, Leidenschaften, die vor allem sinnlicher Natur sind. Die Tugend der Selbstbeherrschung sichert jedem Menschen die Herrschaft seines ,,höheren Ichs" über sein „niederes Ich" zu. Ist das etwa eine Demütigung oder Mißachtung unseres Leibes? Im Gegenteil, diese Herrschaft wertet den Leib auf. Die Tugend der Selbstbeherrschung läßt unseren Leib und unsere Sinne den rechten Platz finden, der ihnen in unserem Menschsein zukommt. Selbstbeherrscht ist ein Mensch, der Herr seiner selbst ist, in dem nicht die Leidenschaften über die Vernunft, den Willen oder das „Herz" verfügen. Der Mensch, der Herr seiner selbst ist! Wenn dem so ist, werden wir uns leicht des grundlegenden, unmittelbaren Wertes bewußt, den die Tugend der Selbstbeherrschung hat. Sie ist geradezu unerläßlich, damit der Mensch wirklich Mensch ist. Es genügt, jemanden anzuschauen, der sich von seinen Leidenschaften mitreißen läßt und zu deren Opfer wird, indem er von selbst auf den Gebrauch der Vernunft verzichtet (wie zum Beispiel ein Alkoholiker, ein Drogensüchtiger), um eindeutig zu erkennen, was „Menschsein" heißt, nämlich die eigene Würde zu achten und sich daher, unter anderem, von der Tugend der Selbstbeherrschung leiten zu lassen. Diese Tugend wird auch „Maßhalten" genannt. Das ist ganz recht! Denn um unsere Leidenschaften, die Begierde des Fleisches, die Ausbrüche der Sinnlichkeit (z. B. in den Beziehungen zum anderen Geschlecht) usw. beherrschen zu können, dürfen wir nicht die richtige Grenze zu uns und unserem „niederen Ich" überschreiten. Wenn wir diese Grenze nicht beachten, werden wir nicht imstande sein, uns zu beherrschen. Das heißt keineswegs, daß der tugendhafte, maßvolle Mensch nicht spontan sein, sich nicht freuen, nicht weinen, nicht seinen Gefühlen Ausdruck geben kann; es bedeutet nicht, daß er gefühllos, unempfindlich, gleichgültig wird, als wäre er aus Eis oder Stein. Nein, keinesfalls! Wir brauchen nur auf Jesus zu blicken, um uns davon zu überzeugen. Die christliche Moral war niemals der stoischen Ethik gleich. Wenn man den ganzen Reichtum von Gefühlen und Emotionen betrachtet, mit denen jeder Mensch ausgestattet ist - jeder übrigens auf seine Weise: sowohl der Mann als auch die Frau aufgrund der jeweiligen Gefühlswelt -, muß man vielmehr erkennen, daß der Mensch diese reife Spontaneität nur durch die ständige Arbeit an sich selbst und eine besondere „Wachsamkeit" über sein ganzes Verhalten erlangen kann. Darin besteht eben die Tugend der Selbstbeherrschung, des Maßhaltens. Meiner Ansicht nach fordert diese Tugend von uns allen eine besondere Demut im Hinblick auf die Gaben, mit denen Gott unsere menschliche Natur ausgestattet hat. Ich möchte von der „Demut des Leibes" und von der „Demut des Herzens" sprechen. Diese Demut ist notwendige Vorbedingung für die innere Harmonie des Menschen, für seine innere Schönheit. Möge jeder darüber nachdenken, besonders die Jugendlichen und noch mehr die jungen Mädchen in dem Alter, in dem man so großen Wert darauf legt, schön zu sein, um den anderen zu gefallen! Denken wir daran, daß der Mensch vor allem innerlich schön sein soll. Ohne diese innere Schönheit werden alle nur dem Körper geltenden Bemühungen weder aus ihm noch aus ihr einen wahrhaft schönen Menschen machen. Übrigens ist es nicht gerade der Körper, der empfindliche Schäden, auch für die Gesundheit, erleidet, wenn dem Menschen die Tugend der Selbstbeherrschung, des Maßhaltens abgeht? In diesem Zusammenhang könnten uns die Statistiken und Krankenberichte aller Krankenhäuser der Welt viel erzählen. Eingehende Erfahrungen machen damit auch die Ärzte, die in den Beratungsstellen für Eheleute, Verlobte und Jugendliche arbeiten. Natürlich dürfen wir die Tugend nicht ausschließlich nach dem Kriterium der leiblich-seelischen Gesundheit beurteilen, doch es gibt unzählige Beweise dafür, daß der Mangel an Tugend, an Selbstbeherrschung, an Maßhalten, der Gesundheit schadet. Hier muß ich Schluß machen, auch wenn ich überzeugt bin, daß ich dieses Thema eher angeschnitten als erschöpfend behandelt habe. Vielleicht bietet sich eines Tages die Gelegenheit, darauf zurückzukommen. Für heute also Schluß. Auf diese Weise habe ich versucht, so gut ich konnte, das Testament Johannes Pauls I. auszuführen. Ich bitte um seine Fürsprache, wenn ich bei den Mittwochsaudienzen nun über andere Themen sprechen muß.