Bei der Generalaudienz am 29. November CHRISTENTUM IST ADVENT SELBER Auch wenn die Adventzeit liturgisch erst am kommenden Sonntag beginnt, möchte ich doch schon heute darüber sprechen. An den Ausdruck „Advent" haben wir uns schon gewöhnt; wir wissen, was er bedeutet; aber eben weil wir mit ihm so vertraut sind, können wir vielleicht nicht ganz den Reichtum und die Fülle erfassen, die er in sich schließt. Advent bedeutet „Ankunft". Wir müssen uns also fragen: Wer kommt? Und für wen kommt er? Auf diese Frage finden wir sogleich die Antwort. Auch Kinder wissen, daß es Jesus ist, der für sie und für alle Menschen kommt. Er kommt nach Betlehem, eines Nachts, er wird in einer Höhle geboren, die als Stall diente. Das wissen die Kinder, das wissen auch die Erwachsenen, die an der Freude der Kinder teilnehmen und die in der Weihnachtsnacht selbst Kinder zu werden scheinen. Doch es erheben sich auch zahlreiche Fragen. Der Mensch hat das Recht, ja sogar die Pflicht, zu fragen - um zu wissen. Es gibt auch solche, die zweifeln und trotz ihrer Teilnahme an der Weihnachtsfreude von der Wahrheit des Weihnachtsfestes anscheinend unberührt bleiben. Eben dafür ist die Adventzeit da, damit wir jedes Jahr aufs neue in diese Grundwahrheit des Christentums eindringen können. 2. Die Wahrheit des Christentums entspricht zwei fundamentalen Wirklichkeiten, die wir niemals aus dem Blick verlieren dürfen. Beide sind eng miteinander verbunden. Gerade diese enge Verbindung - eine Wahrheit scheint die andere zu erklären - ist das charakteristische Merkmal des Christentums. Die erste Wirklichkeit heißt „ Gott", die zweite „Mensch". Das Christentum entspringt einer besonderen Wechselbeziehung zwischen Gott und Mensch. In den letzten Jahren - besonders während des Zweiten Vatikanischen Konzils - hat man ausführlich darüber diskutiert, ob diese Beziehung theozentrisch oder anthropozentrisch sei, ob also Gott oder der Mensch im Mittelpunkt stehe. Auf diese Frage wird es nie eine zufriedenstellende Antwort geben, wenn wir weiterhin beide Pole der Frage getrennt voneinander betrachten. Das Christentum ist nämlich anthropozentrisch, eben weil es voll und ganz theozentrisch ist; und zugleich ist es dank seiner einzigartigen Antropozentrik theozentrisch. Es ist gerade das Mysterium der Menschwerdung, das sich seinerseits aus dieser Beziehung erklärt. Und darum ist das Christentum nicht nur eine „Religion des Advents", sondern der Advent selber. Das Christentum lebt das Geheimnis des tatsächlichen Kommens Gottes zum Menschen, und diese Wirklichkeit macht fortwährend sein innerstes Leben aus. Es handelt sich um eine tiefe und zugleich einfache Wirklichkeit, die dem Verständnis und dem Empfinden jedes Menschen naheliegt, vor allem dem, der in der Weihnachtsnacht ein Kind zu werden weiß. Nicht umsonst hat Jesus einmal gesagt: ,,Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen" (Mt 18, 3). 3. Um diese doppelte Wirklichkeit, aus der das Christentum täglich sein pulsierendes Leben empfängt, in ihrer Tiefe zu begreifen, müssen wir bis an die Anfänge der Offenbarung, ja bis an die Anfänge des menschlichen Denkens zurückgehen. Am Beginn menschlichen Denkens können verschiedene Gedanken und Begriffe stehen; das Denken eines jeden hat seine eigene Geschichte im Lauf seines Lebens von Kindheit an. Wenn wir jedoch von „Anfang" sprechen, wollen wir nicht so sehr die Geschichte des Denkens behandeln. Wir wollen vielmehr festhalten, daß am Anfang des Denkens, das heißt an seinem Ursprung, der Begriff ,,Gott" und der Begriff ,,Mensch" zu finden ist. Manchmal sind diese Begriffe von einer Schicht vieler anderer Begriffe verschüttet, besonders in der heutigen Zivilisation mit ihrer „materialistischen" und „ technokratischen" Versachlichung, aber das heißt keineswegs, jene Begriffe würden nicht mehr bestehen oder nicht mehr die Grundlage unseres Denkens bilden. Auch das ausgeklügeltste atheistische System hat nur dann einen Sinn, wenn man voraussetzt, daß ihm die Bedeutung des Begriffes Gott (Theos) bekannt ist. In diesem Zusammenhang lehrt uns die Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils mit Recht, daß viele Formen des Atheismus aus dem Fehlen einer angemessenen Beziehung zu dieser Gottesvorstellung herrühren. Sie leugnen daher etwas oder jemanden - oder können es zumindest tun-, was gar nicht dem wirklichen Gott entspricht. 4. Der Advent als liturgische Zeit des Kirchenjahres führt uns zurück an die Anfänge der Verkündigung. Und gleich zu Beginn treffen wir auf die grundlegende Verbindung dieser beiden Wirklichkeiten: Gott und Mensch. Nehmen wir das erste Buch der Heiligen Schrift, die Genesis, zur Hand; da lesen wir zu Beginn die Worte: ,,Beresit bara!"- ,,Im Anfang schuf ... "Dann folgt der Name Gottes, der in diesem biblischen Text „Elohim" lautet. Im Anfang schuf er, und der, der schuf, ist Gott. Diese drei Worte bilden gewissermaßen die Schwelle der Offenbarung. Gott wird zu Beginn des Buches Genesis nicht nur mit dem Namen „Elohim" bezeichnet; andere Stellen dieses Buches verwenden auch den Namen , ,Jahwe". Noch deutlicher aber spricht von ihm das Tätigkeitswort „er schuf". Dieses Wort offenbart in der Tat Gott, d. h. wer Gott ist. Es drückt sein Wesen aus, und zwar nicht nur in sich selbst, sondern vor allem im Hinblick auf die Welt, das heißt aber auf alle Geschöpfe, die den Gesetzen von Zeit und Raum unterworfen sind. Die Umstandsbestimmung „im Anfang" weist auf Gott als den hin, der schon vor diesem Anfang ist, den weder Zeit noch Raum begrenzen, der „erschafft", das heißt, der den Anfang setzt für alles, was nicht Gott ist, was die sichtbare und unsichtbare Welt bildet (oder, wie es in der Genesis heißt: Himmel und Erde). In diesem Zusammenhang bedeutet das Wort „er schuf" vor allem, daß Gott selbst existiert, daß er ist, daß er die Fülle des Seins ausmacht, eine Fülle, die sich als Allmacht kundtut, und daß diese Allmacht zugleich Weisheit und Liebe ist. All das sagt uns über Gott schon der erste Satz der Heiligen Schrift. So bildet sich in unserem Geist der Begriff Gott, wenn wir auf die Anfänge der Offenbarung zurückschauen. Es wäre bedeutsam zu überlegen, in welchem Verhältnis der Gottesbegriff am Anfang der Offenbarung zu jenem Begriff steht, den wir am Beginn des menschlichen Denkens vorfinden (und das selbst im Falle einer Leugnung Gottes, also im Atheismus). Dieses Thema wollen wir jedoch heute nicht weiter entwickeln. Wir wollen aber festhalten, daß wir am Anfang der Offenbarung - im gleichen Buch, und zwar schon im ersten Kapitel - die Grundwahrheit über den Menschen finden: Gott (Elohim) schuf ihn nach seinem „Bild und Gleichnis". Wir lesen dort: ,, Gott sprach: Laßt uns Menschen machen als unser Abbild nach unserer Gestalt" (Gen 1, 26), und im folgenden Vers: ,,Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Weib schuf er sie" (Gen 1, 27). Auf das Problem des Menschen kommen wir am nächsten Mittwoch zurück. Aber schon heute müssen wir auf diese besondere Beziehung zwischen Gott und seinem Abbild, dem Menschen, hinweisen. Diese Beziehung macht uns die eigentliche Grundlage des Christentums klar. Sie erlaubt uns auch, zwei Fragen grundsätzlich zu beantworten, und zwar: Was bedeutet „Advent"? und: Warum gehört gerade der „Advent" zum Wesen des Christentums? Ich überlasse euch diese Fragen zum eigenen Nachdenken. Wir werden sie bei unseren künftigen Meditationen noch mehr als einmal aufgreifen. Die Wirklichkeit des Advents ist voll der tiefsten Wahrheit über Gott und den Menschen.