Bei der Generalaudienz am 8. November WAS ES HEISST, GERECHT ZU SEIN Liebe Brüder und Schwestern! In diesen ersten Audienzen, bei denen mir das Glück der Begegnung mit euch zuteil wird, die ihr aus Rom, aus Italien und aus vielen anderen Ländern hierher gekommen seid, möchte ich, wie ich bereits am 25. Oktober gesagt habe, die von meinem Vorgänger Johannes Paul I. gewählten Themen weiterführen. Er wollte ja nicht nur von den drei theologischen Tugenden - Glaube, Hoffnung und Liebe- sprechen, sondern auch von den vier Kardinaltugenden: Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung. In ihnen allen zusammen sah er die sieben Leuchten des christlichen Lebens. Da ihn Gott in die Ewigkeit abberufen hat, konnte er nur über die drei Haupttugenden, Glaube, Hoffnung und Liebe, sprechen, die das ganze Leben des Christen erhellen. Sein unwürdiger Nachfolger möchte nun bei den Begegnungen mit euch im Geist des verstorbenen Vorgängers über die Kardinaltugenden nachdenken und so gewissermaßen diese anderen Lichter an seinem Grab entzünden. 2. So möchte ich heute über die Gerechtigkeit sprechen. Es trifft sich vielleicht gut, daß gerade dies das Thema der ersten Katechese im November ist. Denn dieser Monat lenkt unseren Blick auf das Leben eines jeden Menschen und zugleich auf das Leben der ganzen Menschheit in Hinsicht auf eine letzte, endgültige Gerechtigkeit. Wir alle sind uns mehr oder weniger bewußt, daß sich in dieser vergänglichen irdischen Welt vollkommene Gerechtigkeit nicht verwirklichen läßt. Zwar sind die oft gehörten Worte: ,,Auf dieser Welt gibt es keine Gerechtigkeit" vielleicht das Ergebnis einer allzu leichtfertigen Vereinfachung. Doch sie enthalten zugleich eine tiefe Wahrheit. Die Gerechtigkeit ist in gewissem Sinne größer als der Mensch, als die Dimension seines irdischen Lebens und als seine Möglichkeiten, in dieser Welt unter den Menschen, in Gesellschaft und Sozialgruppen, bei den Völkern usw. vollkommen gerechte Verhältnisse herzustellen. Jeder Mensch lebt und stirbt mit einem bestimmten unersättlichen Hunger nach Gerechtigkeit, denn die Welt vermag ein nach dem Ebenbild Gottes geschaffenes Wesen weder in der Tiefe seiner Person noch in den verschiedenen Aspekten seines menschlichen Lebens bis ins Innerste zufriedenzustellen. Und deswegen öffnet sich der Mensch für Gott in diesem Hunger nach Gerechtigkeit, für Gott, der „die Gerechtigkeit selber" ist. Jesus hat es in der Bergpredigt mit aller Klarheit gesagt: „Selig sind, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden" (Mt 5, 6). 3. Wenn wir diese Gerechtigkeit im Sinn des Evangeliums vor Augen haben, müssen wir sie zugleich als grundlegende Dimension des menschlichen Lebens auf Erden betrachten: des Lebens der Menschen, der Gesellschaft, der Menschheit. Es ist die sittliche Dimension. Die Gerechtigkeit ist grundlegendes Prinzip des Lebens und des Miteinander-Lebens, der einzelnen Menschen sowie der menschlichen Gemeinschaften, der Gesellschaften und der Völker. Darüber hinaus ist die Gerechtigkeit Grundlage für das Bestehen der Kirche als Volk Gottes und Grundlage der Koexistenz der Kirche mit den verschiedenen gesellschaftlichen Strukturen, besonders des Staates, wie auch der internationalen Organisationen. Auf diesem weiten und vielgestaltigen Feld suchen der Mensch und die Menschheit ununterbrochen nach Gerechtigkeit: das ist ein nicht endender Prozeß und eine höchst wichtige Aufgabe. Je nach den verschiedenen Beziehungen und Aspekten hat die Gerechtigkeit im Laufe der Jahrhunderte immer angemessenere Definitionen erhalten. Hieraus sind die Begriffe der Tauschgerechtigkeit, der teilenden, der legalen und der sozialen Gerechtigkeit entstanden. Das alles beweist, welch grundlegende Bedeutung der Gerechtigkeit für die sittliche Ordnung unter den Menschen in den sozialen und internationalen Beziehungen zukommt. Man kann sagen, daß selbst der Sinn der menschlichen Existenz auf Erden an die Gerechtigkeit gebunden ist. Genau zu bestimmen, wieviel alle gemeinsam jedem einzelnen „schulden" und wieviel zugleich jeder einzelne allen gemeinsam „schuldet", was in den verschiedenen Systemen und Verhältnissen der Mensch dem Menschen „schuldet" (debitum) - das zu bestimmen und vor allem zu verwirklichen ist eine große Sache, um derentwillen jeder Mensch lebt und aufgrund deren sein Leben einen Sinn hat. In den Jahrhunderten menschlichen Lebens auf Erden bleibt deshalb ein ständiges Bemühen und ein ständiger Kampf, die Gesamtheit des gesellschaftlichen Lebens in seinen verschiedenen Ausprägungen gerecht zu ordnen. Mit Respekt muß man die vielfältigen Programme und die manchmal reformerische Aktivität verschiedener Richtungen und Systeme betrachten. Gleichzeitig müssen wir uns bewußt sein, daß es hier nicht in erster Linie um die Systeme, sondern um die Gerechtigkeit und um den Menschen geht. Nicht der Mensch kann für das System dasein, sondern das System muß für den Menschen dasein. Daher muß man sich gegen die Erstarrung des Systems zur Wehr setzen. Ich denke an die sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Systeme, die für den Menschen, für sein gesamtes Wohlergehen aufgeschlossen sein sollen und bereit sein müssen, sich selbst und ihre Strukturen entsprechend der vollen Wahrheit vom Menschen zu erneuern. Unter diesem Gesichtspunkt gilt es, das große Bemühen unserer Zeit zu beurteilen, das darauf abzielt, die „Rechte des Menschen" in der modernen Welt, im Leben der Völker und der Staaten zu bestimmen und zu stärken. Die Kirche unseres Jahrhunderts steht in ständigem Dialog an der ausgedehnten Front der heutigen Welt, wie es zahlreiche Enzykliken der Päpste und die Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils bezeugen. Der jetzige Papst wird gewiß immer wieder auf dieses Thema zurückkommen müssen. In der heutigen kurzen Ansprache muß er sich darauf beschränken, auf diesen riesigen und vielgestaltigen Bereich hinzuweisen. 4. Jeder von uns muß also in einer gerechten Umwelt leben können, und, mehr noch: jeder von uns muß gerecht sein und gerecht handeln gegenüber den Nahen und den Fernen, gegenüber der Gemeinschaft, der Gesellschaft, deren Glied er ist, ... und Gott gegenüber. Die Gerechtigkeit hat viele Bezugspunkte und vielerlei Gestalten. So gibt es auch eine Form der Gerechtigkeit, die das betrifft, was der Mensch Gott „schuldet". Das ist ein grundlegendes und umfangreiches Thema für sich. Ich will jetzt nicht näher darauf eingehen, obwohl ich nicht darauf verzichten kann, es wenigstens anzudeuten. Bleiben wir vorerst bei den Menschen. Christus hat uns das Gebot der Nächstenliebe hinterlassen. In diesem Gebot ist auch alles enthalten, was die Gerechtigkeit betrifft. Ohne Gerechtigkeit kann es keine Liebe geben. Die Liebe „übersteigt" die Gerechtigkeit, aber zugleich findet sie in der Gerechtigkeit ihre Bewährung. Sogar Vater und Mutter müssen, wenn sie ihr Kind lieben, gerecht zu ihm sein. Gerät die Gerechtigkeit ins Wanken, ist auch die Liebe gefährdet. Gerecht sein heißt jedem geben, was ihm gebührt. Das gilt für die zeitlichen, die materiellen Güter. Das beste Beispiel kann hier der Arbeitslohn sein oder das sogenannte Recht auf die Früchte der eigenen Arbeit oder des eigenen Bodens. Doch dem Menschen gebührt darüber hinaus der gute Ruf, die Achtung, die Anerkennung, das Ansehen, das er sich verdient hat. Je besser wir den Menschen kennen, um so deutlicher enthüllen sich uns seine Persönlichkeit, sein Charakter, sein Geist und sein Herz. Und um so mehr geben wir uns Rechenschaft darüber - und wir müssen uns darüber Rechenschaft geben -, mit welchem Maßstab wir ihn ,,messen" sollen und was es heißt, gerecht zu ihm zu sein. Deshalb muß das Wissen um die Gerechtigkeit ständig vertieft werden. Es handelt sich dabei nicht um ein theoretisches Wissen. Gerechtigkeit ist eine Tugend, eine Fähigkeit des menschlichen Geistes, des menschlichen Willens und auch des Herzens. Fernerhin müssen wir darum beten, gerecht zu sein, und es verstehen, gerecht zu sein. Wir dürfen nicht die Worte unseres Herrn vergessen: ,,Nach dem Maß, mit dem ihr meßt und zuteilt, wird euch zugeteilt werden" (Mt 7, 2). Ein gerechter Mensch ist ein Mensch des , ,rechten Maßes". Mögen wir alle so sein! Mögen wir alle unablässig versuchen, so zu werden!