Bei der Generalaudienz am 20. Dezember SO SEIN WIE GOTT? Die heutige Generalaudienz gibt uns Gelegenheit zur vierten und letzten Adventsbetrachtung. Der Herr ist nahe, daran erinnert uns jeden Tag die Adventsliturgie. Diese Nähe des Herrn spüren wir alle: sowohl wir Priester, wenn wir täglich die wunderbaren „O-Antiphonen“ des Advents beten, als auch alle Christen, die ihr Herz und ihr Gewissen auf seine Ankunft vorzubereiten versuchen. Ich weiß, daß in dieser Zeit die Beichtstühle in meinem Vaterland Polen belagert sind (nicht weniger als in der Fastenzeit). Ich glaube, daß das sicher auch in Italien so ist und überall da, wo ein tiefer Glaubensgeist die Notwendigkeit, dem kommenden Herrn die Seele zu öffnen, spüren läßt. Die größte Freude dieser Adventserwartung erleben die Kinder. Ich erinnere mich, daß gerade sie am liebsten in die Pfarrkirchen meiner Heimat eilten, wenn die sogenannte Rorate-Messe gefeiert wurde, die nach den Worten benannt ist, mit denen die Liturgie beginnt: ,,Tauet Himmel den Gerechten, Wolken, regnet ihn herab" (Jes 45, 8). Sie zählten jeden Tag, wieviel „Stufen" noch auf der „Himmelsleiter" blieben, auf der Jesus auf die Erde kommen würde, damit sie ihn in der Weihnacht zu mitternächtlicher Stunde in der Krippe von Betlehem finden könnten. Der Herr ist nahe! 2. Vor einer Woche sprachen wir über dieses Kommen des Herrn. Es war das dritte Thema der Mittwochsbetrachtungen im Advent dieses Jahres. Wir haben nacheinander, im Anschluß an die Anfänge der Menschheitsgeschichte, d. h. an das Buch Genesis, die Grundwahrheiten des Advents durchmeditiert: Gott, den Schöpfer (Elohim), der in der Schöpfung sich selbst offenbart; den Menschen, der als sein Abbild geschaffen ist und Gott in der sichtbaren Schöpfung „widerspiegelt". Das waren die ersten und grundlegenden Themen unserer Adventsbetrachtungen. Dann das dritte Thema, das sich kurz im Wort „Gnade" zusammenfassen läßt. ,,Gott will, daß alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen" (1 Tim 2, 4). Gott will, daß der Mensch an seiner Wahrheit teilhat, an seiner Liebe, an seinem Geheimnis, damit er am Leben Gottes selbst teilhaben kann. Der „Baum des Lebens" symbolisiert diese Wirklichkeit schon auf den ersten Seiten der Heiligen Schrift. Aber auf den gleichen Seiten begegnet uns auch ein anderer Baum, den das Buch Genesis den ,,Baum der Erkenntnis von Gut und Böse" nennt (Gen 2, 16). Damit der Mensch vom Baum des Lebens essen kann, darf er die Frucht vom „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse" nicht anrühren. Das hört sich wie eine „archaische" Legende an. Je mehr wir in die „Wirklichkeit des Menschen" eindringen, so wie wir die Möglichkeit haben, seine irdische Geschichte zu verstehen - wovon zu jedem von uns unsere innere menschliche Erfahrung und unser sittliches Bewußtsein sprechen -, um so mehr merken wir, daß wir nicht teilnahmslos bleiben und mit den Schultern zucken können, weil uns diese biblischen Bilder zu primitiv scheinen. Wieviel menschliche Daseinswahrheit steckt darin! Wahrheiten, die jeder als seine eigenen empfindet. Hat nicht Ovid, der alte römische, heidnische Dichter ausdrücklich gesagt: ,,Ich sehe das Bessere und billige es, dem Schlechteren folge ich" (Metamorphosen VII, 20). Seine Worte liegen nicht weit ab von dem, was später der hl. Paulus schrieb: ,,Denn ich begreife mein Handeln nicht: ich tue nicht das, was ich will, sondern das, was ich hasse" (Röm 7, 15). Der Mensch selbst steht, nach der Ursünde, zwischen „Gut und Böse". „Die Wirklichkeit des Menschen" - die tiefere Wirklichkeit des Menschen - scheint sich fortwährend zwischen dem abzuspielen, was im Anfang als „Baum des Lebens" und als „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse" bezeichnet wurde. Wir können also aus unseren Adventsbetrachtungen, die die grundlegenden Gesetze, die entscheidenden Wirklichkeiten ins Auge fassen, ein anderes Thema nicht ausschließen: dasjenige nämlich, das sich im Wort „Sünde" ausdrückt. 3. Also die Sünde: Der Katechismus braucht dieses schlichte und leicht verständliche Wort, wenn er uns vor der Übertretung der Gebote Gottes warnt. Zweifellos ist die Sünde Übertretung eines sittlichen Prinzips, die Verletzung einer „Norm" - und darin sind sich alle einig, auch diejenigen, die nichts von den „Geboten Gottes" hören wollen. Auch sie stimmen der Annahme von sittlichen Grundnormen zu, von elementarsten Verhaltensgrundsätzen, ohne die das Leben und das Zusammenleben der Menschen nicht möglich ist, und das sind eben die, die wir als „Gebote Gottes" kennen (im besonderen das vierte, fünfte, sechste, siebente und achte). Das Leben des Menschen, das Zusammenleben der Menschen spielt sich in einer ethischen Dimension ab, das ist sein entscheidender Zug und auch die entscheidende Dimension der menschlichen Kultur. Aber ich möchte, daß wir uns heute auf diese „Ursünde" konzentrieren, die - entgegen dem, was man gemeinhin denkt - im Buch Genesis mit solcher Präzision beschrieben ist, daß uns der ganze Abgrund der darin enthaltenen „Wirklichkeit des Menschen" vor Augen steht. Diese Sünde wird gleichzeitig „von außen“ her und „von innen“ heraus „geboren“. Von „außen her“, d. h. durch die Versuchung, die sich in den Worten des Versuchers ausdrückt: ,,Gott weiß: Sobald ihr davon eßt, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse" (Gen 3, 5). Der Inhalt der Versuchung betrifft also das, was der Schöpfer selbst in den Menschen hineingelegt hat - denn er hat ihn als „Abbild Gottes" geschaffen, was heißen soll „so wie Gott". Er betrifft auch das Verlangen nach Erkenntnis, das im Menschen ist, und das Verlangen nach Würde. Nur wenn das eine wie das andere verfälscht werden, sowohl das Verlangen nach Erkenntnis als auch das nach Würde, d. h. ,,wie Gott" zu sein, werden sie in der Versuchung mißbraucht, um den Menschen gegen Gott zu stellen. Der Versucher stellt den Menschen gegen Gott, indem er ihm einredet, Gott sei sein Widersacher, der versuche, ihn, den Menschen, im Zustand der „Unwissenheit" zu belassen. Der Versucher sagt: „Nein, ihr werdet nicht sterben! Gott weiß vielmehr: Sobald ihr davon eßt, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse" (nach der älteren Übersetzung: ,,ihr werdet wie Götter") - (Gen 3, 4-5). Man muß diese „archaische" Schilderung nicht nur einmal durchmeditieren. Ich weiß nicht, ob sich in der Heiligen Schrift viele andere Stellen finden, in denen die Wirklichkeit der Sünde nicht nur in ihrer ursprünglichen Form, sondern auch in ihrem Wesen beschrieben wird, d. h. wo die Wirklichkeit der Sünde in so vollem und tiefem Ausmaß dargestellt wird, wo gezeigt wird, daß der Mensch gegen Gott gerade das benutzt hat, was er von Gott hatte, also das, was er benutzen sollte, um sich zu Gott hin zu bewegen. Warum sprechen wir von all dem heute? Um den Advent besser zu verstehen. Advent soll heißen: Gott kommt, weil er will, ,,daß alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen" (1 Tim 2, 4). Er kommt, weil er aus Liebe die Welt und den Menschen geschaffen und mit ihm die Gnadenordnung gefestigt hat. Er kommt „wegen der Sünde". Er kommt „trotz der Sünde". Er kommt, um die Sünde zu beseitigen. Wundern wir uns also nicht, daß er in der Heiligen Nacht keinen Platz in den Häusern von Betlehem fand und in einem Stall geboren wurde, in einer Grotte, die den Tieren zum Schutz diente. Um so wichtiger ist aber, daß er kam. Jedes Jahr erinnert uns der Advent daran, daß die Gnade, also der Wille Gottes, den Menschen zu retten, mächtiger als die Sünde ist.