Bei der Generalaudienz am 27. Dezember MENSCHSEIN HEISST: GOTT SUCHEN Wir begegnen uns in der liturgischen Zeit des Weihnachtsereignisses. So möchte ich, daß meine Worte heute der Freude dieses Festes und dieser Oktav entsprechen und daß sie auch der Einfachheit und der Tiefe nahe kommen, die das Weihnachtsgeheimnis ausstrahlt. Spontan steigt da in meinem Geist die Erinnerung an mein eigenes Leben auf, an die Jahre meiner Kindheit im Elternhaus, die schwierigen Jahre der Jugend und die Zeit des Zweiten Weltkrieges. Möchte ein solcher Krieg in der Geschichte Europas und der Welt nie wiederkehren! Und doch, auch in den schlimmsten Jahren schenkte Weihnachten immer einen Lichtstrahl. Und dieses Licht drang ein in die härtesten Erfahrungen der Erniedrigung des Menschen, der Vernichtung seiner Würde und aller Grausamkeit. Um sich das klarzumachen, genügt es, die Erinnerungen jener Menschen zur Hand zu nehmen, die in Gefängnissen oder Konzentrationslagern waren, die an den Fronten des Krieges standen oder Verhöre und Gerichtsverfahren mitmachen mußten. Der Lichtstrahl der Weihnacht, das Licht der Geburt Gottes, ist nicht nur eine Erinnerung an die Lichter des Weihnachtsbaumes bei der Krippe daheim in der Familie oder in der Pfarrkirche: es ist mehr! Es ist der mächtigste Hoffnungsstrahl der Menschheit, die von Gott heimgesucht wurde, der Menschheit, die erneut angenommen und aufgenommen wurde von Gott selber, angenommen im Sohn Mariens in der Einheit der göttlichen Person des Sohnes und Wortes. In jedem von uns hat der Sohn Gottes auf geheimnisvolle Weise die menschliche Natur angenommen in uns, die wir in diese neue Einheit mit dem Vater aufgenommen sind. Die Ausstrahlung dieses Geheimnisses reicht weit, sehr weit; sie dringt vor bis in jene Bereiche der menschlichen Existenz, in denen jeder Gedanke an Gott fast erstickt ist und zu fehlen scheint, wie verbrannt und ausgelöscht. Aber seht, leuchtet nicht in der Heiligen Nacht vielleicht trotz allem etwas Neues auf? Gesegnet sei dieses „vielleicht trotz allem", denn es ist schon ein Schimmer des Glaubens und der Hoffnung! 2. Am Weihnachtsfest lesen wir von den Hirten von Betlehem, die als erste zur Krippe gerufen wurden, um den Neugeborenen anzuschauen: ,,Sie eilten hin und fanden Maria und Josef und das Kind, das in einer Krippe lag" (Lk 2, 16). Verweilen wir bei diesem „sie fanden". Das Wort zeigt, daß sie gesucht haben. Als die Hirten von Betlehem sich mit ihrer Herde zur Ruhe legten, wußten sie nicht, daß die Zeit gekommen war, da sich das erfüllen sollte, was die Propheten ihres Volkes seit Jahrhunderten verkündet hatten; daß es sich gerade in dieser Nacht erfüllen sollte, und zwar nahe bei dem Ort, wo sie sich aufhielten. Auch als sie aus ihrem Schlaf erwacht waren, wußten sie weder, was geschehen war, noch wo es sich ereignet hatte. Ihre Ankunft in der Geburtsgrotte war das Ergebnis ihres Suchens. Zugleich waren sie aber auch geführt und, wie wir lesen, geleitet von einer Botschaft und einem Licht. Und wenn wir noch weiter in die Vergangenheit zurückgehen, sehen wir sie geleitet durch die Überlieferung ihres Volkes und dessen Erwartung. Wir wissen ja, daß Israel die Verheißung des Messias empfangen hatte. Der Evangelist spricht hier von den einfachen, bescheidenen und armen Menschen Israels: den Hirten, die ihn als erste gefunden haben. Er berichtet es in aller Einfachheit, als ob es sich um ein „äußeres" Ereignis handle: sie suchten, wo er sein könnte, und am Ende fanden sie ihn. Gleichzeitig weist dieses „sie fanden" bei Lukas aber auf eine innere Dimension hin: die Weihnacht hat sich in den Menschen, in diesen einfachen Hirten von Betlehem ereignet. „Sie fanden Maria und Josef und das Kind, das in einer Krippe lag", und weiter: ,, ... sie kehrten zurück, rühmten und lobten Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten, so wie es ihnen gesagt worden war" (Lk 2, 16.20). 3. ,,Sie fanden", das weist hin auf „suchen". Der Mensch ist ein Wesen, das sucht. Seine ganze Geschichte bestätigt dies. Auch das Leben eines jeden von uns bezeugt es. Auf vielen Gebieten sucht und forscht und findet der Mensch, und oft beginnt er gerade nach dem Finden erneut das Suchen. Unter all den Gebieten, auf denen sich der Mensch als ein Wesen erweist, das sucht, gibt es eines von besonderer Tiefe. Es reicht bis ins innerste Sein des Menschen. Und es ist am tiefsten mit dem Sinn des Menschenlebens verbunden. Der Mensch ist das Wesen, das Gott sucht. Verschieden sind die Wege dieses Suchens und zahlreich die Geschichten der Menschenherzen gerade auf diesem Weg. Manchmal erscheinen sie sehr einfach und einander nahe. Dann wieder sind sie schwierig, verwickelt und weit voneinander entfernt. Manchmal kommt der Mensch leicht zu seinem „Heureka": ,,Ich habe gefunden!" Dann wieder ringt er mit den Schwierigkeiten, als ob er sich selbst und die Welt und vor allem das Böse in der Welt nicht begreifen könnte. Wir wissen, daß auch im Zusammenhang mit der Geburt von Betlehem dieses Böse sein drohendes Antlitz gezeigt hat. Nicht wenige Menschen haben ihre Gottsuche auf den Wegen ihres eigenen Lebens schriftlich dargestellt. Noch zahlreicher freilich sind jene, die schweigen, weil sie alles das, was sie auf diesen Wegen erlebt haben, als ihr eigenes, tiefstes Geheimnis wahren wollen: ihre Erfahrungen und ihr Suchen, wie sie den Weg verloren und dann wieder gefunden haben. Der Mensch ist jenes Wesen, das Gott sucht. Nachdem er ihn aber endlich gefunden hat, sucht er weiter nach ihm, und wenn er ihn ehrlich sucht, hat er ihn auch schon gefunden, wie in einem berühmten Fragment von Pascal Jesus dem Menschen sagt: ,,Tröste dich, du würdest mich nicht suchen, wenn du mich nicht schon gefunden hättest" (B. Pascal, Pensées, 553; Le mystére de Jésus). Das ist die Wahrheit vom Menschen. Man kann sie nicht verfälschen. Man kann sie auch nicht zerstören. Man muß diese Wahrheit dem Menschen lassen, weil sie ihn definiert. Was sollen wir aber angesichts dieser Wahrheit vom Atheismus sagen? Sehr viel wäre zu sagen, mehr als es im Rahmen dieser kurzen Ansprache möglich ist. Aber wenigstens eins muß gesagt werden: es ist unerläßlich, ein Kriterium anzuwenden, das Kriterium der Freiheit des menschlichen Geistes. Mit diesem fundamentalen Kriterium aber steht der Atheismus nicht in Übereinstimmung, weder wenn er von vornherein leugnet, daß der Mensch jenes Wesen ist, das Gott sucht, noch wenn er auf verschiedene Weise das Suchen nach Gott im sozialen, öffentlichen und kulturellen Leben behindert. Eine solche Haltung widerspricht den fundamentalen Rechten des Menschen. 4. Doch will ich dabei nicht weiter verweilen. Wenn ich es andeute, dann um auf die ganze Schönheit und Würde des Suchens nach Gott hinzuweisen. Diesen Gedanken hat mir das Weihnachtsfest nahegelegt. Wie ist Christus geboren worden? Wie ist er in die Welt gekommen? Warum ist er in die Welt gekommen? Er ist in die Welt gekommen, damit ihn die Menschen finden können, jene, die ihn suchen. So wie ihn die Hirten in der Grotte von Betlehem gefunden haben. Ich sage sogar noch mehr. Jesus ist in die Welt gekommen, um die volle Würde und den Adel des Gottsuchens zu offenbaren, welches das tiefste Verlangen des menschlichen Herzens ist, und um selber diesem Suchen entgegenzukommen.