Bei der Generalaudienz am 6. Dezember NUR DER MENSCH FRAGT, WER ER IST Liebe Brüder und Schwestern! Heute nehme ich das Thema vom vergangenen Mittwoch wieder auf. 1. Um die biblische und liturgische Fülle dessen, was Advent eigentlich bedeutet, zu erfassen, müssen wir in zwei Richtungen suchen. Es gilt, zurückzugehen an die Anfänge und zugleich in die Tiefe hinabzusteigen. Wir haben das zum ersten Mal am vergangenen Mittwoch getan, als wir zum Thema unserer Betrachtung die ersten Worte des Buches der Genesis wählten: ,,Im Anfang schuf Gott" (,,Beresit bara Elohim"). Am Ende der Ausführungen in der vorigen Woche haben wir unter anderem betont, daß es zum vollen Verständnis des Advents unerläßlich ist, auch auf das Thema Mensch einzugehen. Die volle Bedeutung des Advents ergibt sich aus der Betrachtung der Wirklichkeit Gottes, des Schöpfers. In seiner Schöpfung offenbart er sich selbst. Dies ist die erste und fundamentale Offenbarung, zugleich die erste und grundlegende Wahrheit unseres Glaubensbekenntnisses. Die volle Bedeutung des Advents kommt aber zugleich auch aus der in die Tiefe dringenden Betrachtung der Wirklichkeit des Menschen zum Vorschein. Diese Wirklichkeit des Menschen wollen wir heute ein wenig näher ins Auge fassen. 2. Vor einer Woche haben wir das Wort der Genesis bedacht, wo der Mensch als „Abbild und Gleichnis Gottes" definiert wird. Wir müssen aber noch eingehender über die Texte nachdenken, die davon sprechen. Sie gehören zum ersten Kapitel des Buches Genesis, wo die Erschaffung der Welt in einer Folge von sieben Tagen dargestellt ist. Die Beschreibung der Erschaffung des Menschen am sechsten Tag unterscheidet sich etwas von den vorangehenden Beschreibungen. Bei diesen sind wir nämlich nur Zeugen des Schöpfungsaktes, was in den Worten: ,,Gott sprach - es werde ... "zum Ausdruck gebracht wird; hier dagegen will der inspirierte Verfasser des Buches zuerst die Absicht und den Plan des Schöpfers (Gottes - Elohim) hervorheben; wir lesen: ,,Dann sprach Gott: Laßt uns Menschen machen als unser Abbild nach unserer Gestalt" (Gen 1, 26 ). Es ist, als würde Gott mit sich selbst zu Rate gehen, als würde er durch den Schöpfungsakt- mit dem Wort „Es werde" - den Menschen nicht nur aus dem Nichts ins Dasein rufen, sondern als würde er ihn auf ganz besondere Weise aus dem Geheimnis seines eigenen Seins hervortreten lassen. Das ist verständlich, handelt es sich doch nicht bloß um das Sein, sondern um das Abbild-Sein. Ein Abbild muß das Wesen seines Urbilds widerspiegeln, ja in gewisser Weise wiedergeben. Der Schöpfer sagt darüber hinaus: ,,nach unserer Gestalt". Damit wird offenkundig, daß man den Menschen nicht nur als Bild, sondern als ein lebendiges Wesen begreifen muß, das ein dem Leben Gottes ähnliches Leben lebt. Erst nach diesen Worten, die sozusagen den Plan des Schöpfergottes bezeugen, spricht die Bibel vom eigentlichen Akt der Erschaffung des Menschen: ,,Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie" (Gen 1, 27). Vervollständigt wird diese Beschreibung durch den Segen. Wir haben hier also den Entwurf, den Schöpfungsakt selber und den Segen: „Gott segnete sie und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und vermehret euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen!" (Gen 1, 28). Die Beschreibung endet mit den Worten: ,,Gott sah, daß alles, was er gemacht hatte, sehr gut war" (Gen 1, 31); sie erscheinen uns gleichsam als Widerhall dieses Segens. 3. Der Text der Genesis gehört sicher zu den ältesten: sie ist nach den Exegeten um das 9. Jahrhundert vor Christus geschrieben worden. Der Text enthält die Grundwahrheit unseres Glaubens, den ersten Artikel des apostolischen Glaubensbekenntnisses. Die Erschaffung des Menschen ist in ihrer Einfachheit und Tiefe zugleich großartig dargestellt. Was hier gesagt wird, entspricht unserer Erfahrung und unserer Kenntnis des Menschen. Ohne Unterschied in der Weltanschauung ist allen klar, daß der Mensch zwar zur sichtbaren Welt, zur Natur gehört, sich aber in gewisser Weise von ihr abhebt. Denn die sichtbare Welt ist für ihn da, und er „ übt über sie Herrschaft aus"; so sehr er auch auf verschiedene Weise von der Natur abhängt, er beherrscht sie. Er beherrscht sie kraft dessen, was er ist, kraft seiner geistigen Gaben und Fähigkeiten, die ihn von der sichtbaren Natur unterscheiden. Und eben diese Fähigkeiten machen den Menschen aus. In diesem Punkt ist das Buch der Genesis ungewöhnlich präzise. Indem es den Menschen als „Abbild Gottes" definiert, stellt es das heraus, was den Menschen zum Menschen macht; das, wodurch er sich von allen anderen Geschöpfen der sichtbaren Welt unterscheidet. Wir kennen die zahlreichen Versuche, die die Wissenschaft auf verschiedenen Gebieten unternommen hat - und weiter unternimmt -, um die Verbindungen des Menschen mit der Welt der Natur und seine Abhängigkeit von ihr aufzuweisen und ihn so in die Entwicklungsgeschichte der verschiedenen Arten von Lebewesen einzuordnen. Bei aller Achtung vor solchen Versuchen können wir uns doch nicht auf sie beschränken. Wenn wir den Menschen in seinem tiefsten Sein analysieren, sehen wir, daß er sich von der sichtbaren Welt viel mehr unterscheidet, als er ihr gleicht. In diesem Sinn gehen auch Anthropologie und Philosophie vor, wenn sie die Intelligenz, die Freiheit, das Gewissen und die Religiosität des Menschen zu analysieren und zu begreifen versuchen. Das Buch Genesis scheint allen diesen Erfahrungen der Wissenschaft zu entsprechen und gibt dadurch, daß es vom Menschen als dem „Abbild Gottes" spricht, zu verstehen, daß sich die Antwort auf das Geheimnis seines Menschseins nicht über die Ähnlichkeit mit der sichtbaren Natur finden läßt. Der Mensch ist mehr Gott als der Natur ähnlich. In diesem Sinne sagt Psalm 82, 6: ,,Ihr seid Götter", Worte, die Jesus aufgreift (vgl. Joh 10, 34). 4. Das ist eine kühne Behauptung. Es braucht Glauben, um sie anzunehmen. Doch die vorurteilslose Vernunft widerspricht dieser Wahrheit über den Menschen nicht, im Gegenteil, sie sieht in ihr eine Ergänzung dessen, was sich aus der Analyse der menschlichen Wirklichkeit und besonders des menschlichen Geistes ergibt. Es ist sehr bezeichnend, daß bereits das Buch Genesis in dem langen Bericht über die Erschaffung des Menschen den ersten Menschen (Adam) eine ähnliche Analyse anstellen läßt. Was wir dort lesen, mag in seiner archaischen Ausdrucksweise bei dem einen oder anderen vielleicht Anstoß erregen; zugleich aber kann man nur staunen über die Aktualität dieses Berichtes, wenn man den Kern des Problems in Betracht zieht. Der Text lautet: ,,Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen. Dann legte Gott, der Herr, in Eden, im Osten, einen Garten an und setzte dorthin den Menschen, den er geformt hatte. Gott, der Herr, ließ aus dem Ackerboden allerlei Bäume wachsen, verlockend anzusehen und mit köstlichen Früchten, in der Mitte des Gartens aber den Baum des Lebens und den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Ein Strom entspringt in Eden, der den Garten bewässert; dort teilt er sich und wird zu vier Hauptflüssen ... Gott, der Herr, nahm also den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, damit er ihn bebaue und hüte ... Dann sprach Gott, der Herr: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein bleibe. Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht. Gott, der Herr, formte aus dem Ackerboden alle Tiere des Feldes und alle Vögel des Himmels und führte sie dem Menschen zu, um zu sehen, wie er sie benenne. Und wie der Mensch jedes lebendige Wesen benannte, so sollte es heißen. Der Mensch gab Namen allem Vieh, den Vögeln des Himmels und allen Tieren des Feldes. Aber eine Hilfe, die dem Menschen entsprach, fand er nicht" (Gen 2, 7-20). Was sehen wir hier? Der erste Mensch vollzieht den ersten und grundlegenden Akt von Welterkenntnis. Zugleich erlaubt ihm dieser Akt, sich selbst zu erkennen und sich als Mensch von allen anderen Geschöpfen zu unterscheiden, vor allem von jenen Geschöpfen, die als „Lebewesen" - mit vegetativem und sinnlichem Leben ausgestattet - die verhältnismäßig größte Ähnlichkeit mit ihm, dem Menschen, aufweisen, der ja ebenfalls mit vegetativem und sinnlichem Leben ausgestattet ist. Man könnte also sagen, dieser erste Mensch tut, was normalerweise jeder Mensch zu jeder Zeit tut: er denkt über sein eigenes Sein nach und fragt sich, wer er ist. Ergebnis dieses Erkenntnisprozesses ist die Feststellung des grundlegenden und wesentlichen Unterschiedes: ich bin anders, bin mehr „anders" als „ähnlich". Der biblische Bericht: endet mit den Worten: ,,Eine Hilfe, die dem Menschen entsprach, fand er nicht" (Gen 2, 20). 5. Warum sprechen wir heute gerade über dieses Thema? Wir tun es, um das Geheimnis des Advents besser zu verstehen, und zwar von seinen eigentlichen Grundlagen her, damit wir unseren christlichen Glauben tiefer erfassen. Advent heißt „Ankunft". Wenn Gott zum Menschen kommt, so tut er das, weil er im Sein des Menschen eine „Dimension der Erwartung" angelegt hat, aufgrund deren der Mensch Gott empfangen kann. Und er ist tatsächlich befähigt, das zu tun. Das wird schon im Buch Genesis, und besonders in diesem Kapitel, deutlich, wo es vom Menschen heißt, Gott „schuf (ihn) als sein Abbild" (Gen 1, 27).